Seit Jahresbeginn notiert der deutsche Leitindex DAX mehr als 10% im Plus – und jetzt kommt der Mai und wir erinnern uns an die Börsenweisheit „Sell in May and go away“. Ist also jetzt ein guter Zeitpunkt, um zunächst über Gewinnmitnahmen nachzudenken?
Sell in May and Go away?!
In den Wochen- und Monatsschluss hinein präsentierte sich der DAX zunächst verstimmt, irgendetwas scheint die DAX-Bullen am Freitag in die Defensive gedrängt zu haben: statt eines Bruchs aus der in den vergangenen Wochen etablierten Handelsspanne zwischen 15.700 und 15.900 Punkten auf der Oberseite, welcher den Weg in Richtung der 16.000 und darüber 16.100er-Marke eingeleitet hätte, setzte der deutsche Leitindex stattdessen zu einer erneuten Attacke auf die 15.700er-Marke an.
Ein Bruch tiefer blieb zwar aus, aber es bleibt irgendwie ein fader Beigeschmack, trotz der Tatsache, dass der DAX nach vier Monaten im Jahr 2023 eine blütenweiße Weste aufzuweisen und jeden einzelnen Börsenmonat des Jahres positiv beschlossen hat.
Seit Jahresbeginn notiert mehr als 10 % im Plus – und jetzt kommt der Mai und wir erinnern uns an die Börsenweisheit „Sell in May and go away (but remember to come back in September“ (zu Deutsch: Verkaufe im Mai, aber vergiss nicht, im September wieder zu kaufen.) – ist also jetzt ein guter Zeitpunkt, um zunächst über Gewinnmitnahmen nachzudenken?
Bevor wir uns der Börsenweisheit widmen, zunächst ein Blick auf die fundamentale und technische Lage im DAX:
Technisch ist der DAX seit September 2022 in einem klaren Aufwärtstrend und ein Blick auf den Chart offenbart eine saubere Struktur steigender Hochs und Tiefs.
Der einzige, signifikantere Rücksetzer im DAX findet sich zwischen Anfang und Mitte März, wo der deutsche Leitindex im Windschatten der US-Aktienmärkte infolge der Mini-Bankenkrise in den USA rund um die Silicon Valley Bank 6, 7 % zurücksetzte, sich von dort aber auf neue Jahreshochs aufmachte.
Quelle: XTB xStation5 DE30 Daily Chart (05. Mai 2022 bis 28. April 2023). Screenshot erstellt am 28. April 2023, 17:30 Uhr (MESZ)
Genau diese „Mini-Bankenkrise“ hat nun die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die US-Notenbank in der zweiten Jahreshälfte 2023 den Leitzins nach ihren aggressiven Zinsanhebungsschritten in 2022 wieder senken wird. Laut FED Watch Tool sehen die Marktteilnehmer 100 Basispunkte niedrigere Zinsen im Dezember 2023. Und warum tun sie das? Nun, erst am Donnerstag zeigte sich, dass die US-Wirtschaft im ersten Quartal nur um annualisierte 1.1 % wuchs und das Wirtschaftswachstum sich damit gegenüber einer Expansion von 2.6 % im vorangegangenen Quartal deutlich verlangsamte.
Oder anders formuliert: die USA befindet sich auf dem Weg in eine tiefe Rezession, besonders dann, zeigt sich die US-Notenbank FED weiter geldpolitisch restriktiv. Sprich: die US-Notenbank wird gar nicht anders können, als den Leitzins eher früher als später zu senken – und das ist für Aktien ein grundsätzlich sehr vorteilhaftes Umfeld.
Macht es dann wirklich Sinn, jetzt über Gewinnmitnahmen nachzudenken und nach der Devise zu verfahren „Sell in May and Go away“ (zumindest bis September)?
Rein fundamental und auch rein technisch scheint das nicht sinnvoll. Und auch in Bezug auf die „Börsenweisheit“ gilt es tatsächlich eher vorsichtig zu sein.
„Sell in May and go away ...“ – was steckt eigentlich dahinter?
Ihren Ursprung findet die Börsenweisheit „Sell in May and go away“ im angelsächsischen Raum und hier in der britischen Oberschicht des 17.und 18. Jahrhunderts. Die reichen Lords, Earls & Co. bestimmten damals als größte Anlegergruppe maßgeblich das Geschehen an der Londoner Börse. In diesen Kreisen war es üblich, den Sommer auf dem Land zu verbringen und sich die Zeit mit Pferderennen und anderen Vergnügungen zu vertreiben, statt über Geldnachzugrübeln. Außerdem war der Nachrichtenfluss von den Finanzmärkten aufs Land auch zu spärlich, um weitreichende Investmententscheidungen zu treffen. Deshalb wurden vor der Abreise noch schnell Aktien verkauft. Erst mit der Rückkehr nach London im Frühherbst nahmen die Anleger ihre Aktivität an den Börsen wieder auf, was sich im zweiten Teil der Börsenweisheit widerspiegelt:„... but remember to come back in September“ („... aber vergiss nicht, im September zurückzukommen“).
Erstellt man nun eine Statistik für den DAX zurück bis ins Jahr 1990, dann spricht einiges dafür, dass diese Börsenweisheit ihre Daseinsberechtigung hat, bei genauerer Betrachtung offenabrt sich allerdings, dass der „Sack doch ein paar Flöhe zu haben scheint“.
Der DAX hat vor allem dank der deutlichen Verringerung des Drawdowns in den Jahren von 2000 bis 2003 dank der „Sell-in-May“-Strategie outperformen können, wo die New-Economy-Blase platzte und in einem heftigen Drawdown im DAX resultierte, wo dieser nahezu halbiert werden konnte.
Und: in den vergangenen 33 Jahren hat der DAX tatsächlich nur in 18 Jahren zwischen Mai und September Kursverluste ausgewiesen, in 15 Jahren kam es hingegen zur „Sommer-Rallye“ – ein Trend ist hier also absolut nicht zu erkennen.
Was bedeutet das für uns als Trader?
Vermutlich scheint derzeit eine gute Herangehensweise, den DAX oberhalb des EMA(50) (orange) auf Tagesbasis mit einem klaren Vorteil auf der Long-Seite zu betrachten und oberhalb des EMA(50) eher von weiteren Kursaufschlägen und einem baldigen Test der Allzeithochs im DAX um 16.300 Punkte auszugehen.
Wirklich eingetrübt wäre das Bild im DAX auf Tagesbasis rein charttechnisch tatsächlich erst unterhalb der US-Bankenkrisen-Tiefs um 14.600 Punkte.